Aus dem Zwiespalt in die Vielfalt

“Das Leben ist eine Balance zwischen Festhalten und Loslassen” (Rumi).

Und das Leben kann auch ganz schön verwirrend sein. Die vielen Gegensätzlichkeiten, und das in einer Welt, die immer komplexer, dynamischer und schnelllebiger wird, können in uns ein Gefühl von Diskrepanz und Unruhe erzeugen. Beispielsweise sollen wir uns einerseits mit Aufmerksamkeit und Fokus unseren Herausforderungen zuwenden, gleichzeitig aber auch lernen, loszulassen.

Wir sollen unseren Mitmenschen vertrauen und uns mit ihnen verbinden, uns aber gleichzeitig abgrenzen und für uns (ein)stehen. Wir erkennen diese vielen Gemeinsamkeiten und Parallelen mit anderen, als wären wir alle irgendwie gleich, und sind dennoch so unvergleichlich verschieden.

Verständlicherweise sehnen wir uns in all der Verwirrung nach Orientierung, nach Richtungsgebern und Grenzen. Um uns durch diese Komplexität zu navigieren und um uns selbst in ihr zu positionieren, denken wir natürlicherweise in Kategorien und Hierarchien.

Gemeinsam sei besser als einsam, schneller besser als langsam, und mehr besser als weniger. Gut ist nur gut und schlecht ist nur schlecht. Dieses Dualitätsdenken ist ein Sortierprinzip unserer Wahrnehmung, und natürlich würden wir uns selbst und unsere mentalen Kapazitäten maßlos überfordern, würden wir alles zu jeder Zeit bis ins kleinste Detail differenziert betrachten.

Und dennoch hilft uns manchmal eben eine etwas ausgewogenere Betrachtungsweise, heraus aus unseren fest verschlossenen Denkschubladen, die Gegensätzlichkeiten in ihrer Ganzheit zu erfassen, und uns eben nicht in der halben Wahrheit der Einfachheit zu verlieren. Und vielleicht erkennen wir dabei eben auch, dass gegensätzlich nicht unbedingt widersprüchlich bedeuten muss.

So kreieren wir aus der trennenden Dualität eine verbindende Polarität.

Was kann uns also helfen, die Gleichwertigkeit der verschiedenen Kräfte zu erkennen und ihre Energien für uns zu nutzen?

Nachfolgend 3 Ideen, die uns vielleicht den ein oder anderen Impuls geben können, aus der Zerrissenheit von “Entweder Oder” auszusteigen und die Gegensätzlichkeiten des Lebens mit einem “Und” zu verbinden:

1. Gegensätzliche Kräfte finden sich überall in und um uns - und wir brauchen stets beide Seiten.

Es kann enorm hilfreich sein, uns zu veranschaulichen, was die Stärke der Systeme in uns und um uns ausmacht, so wie es von Natur aus vorhergesehen ist:

Im menschlichen Körper selbst finden sich viele Einheiten, die erst über ein Zusammenspiel ihrer Polaritäten ein funktionierendes System bilden. So gliedert sich etwa unser vegetatives (autonomes) Nervensystem in die gegensätzlichen Funktionseinheiten Sympathikus und Parasympathikus.

Während der sympathische Teil für Aktivierung, Energiebereitstellung und Leistungssteigerung zuständig ist, bringt uns der parasympathische Teil Beruhigung, Erholung und Regeneration. Erst durch ein Ineinandergreifen und gegenseitiges Ausbalancieren der beiden Einheiten ist unser Körper fähig, mit den Informationen unserer Umwelt in Austausch zu gehen und sich daraufhin wieder in Richtung Homöostase zurückzubringen.

Dies gilt auch für unser Atemsystem und dem Wechselspiel aus O2 und CO2, der Abwechslung von An- und Entspannung unserer Muskelfasern, oder unserem Tag- und Nachtrhythmus.

Wenn wir noch eine Ebene weiter nach außen gehen, zu unserer Beziehung mit unseren Mitmenschen, brauchen wir die bewusste Zeit der Einkehr und Reflexion, ganz unabhängig und mit uns allein, ebenso wie die Zeit in Verbindung und Resonanz mit unseren Mitmenschen. Erst mit dieser Mischung können wir aus der vollen Vielfalt an Möglichkeiten in und um uns schöpfen.

Es wären noch endlos viele weitere Beispiele aufzulisten, wie sich in uns, in der Natur und wahrscheinlich im ganzen Universum alles aus diesen Polaritäten aufbaut. Aus dem “Yin und Yang” - zwei Begriffe aus der chinesischen Philosophie, die wir auch in unserer westlichen Welt heute für die beiden Kräfte verwenden.

Mit Yang für das Progressive, für Aktion, Tag, Wärme, Licht, Härte, welches vorwärts gerichtet und dynamisch ist. Yin dagegen, für das Konservative, für Reaktion, Nacht, Kälte, Dunkelheit, Weichheit, ist rückwärts gewandt und träge.

Beide Kräfte sind gleichwertig, und erst durch ihr Gegenteil wird die jeweilige Seite ausgeglichen - wie auch die wechselseitigen Punkte im Yin und Yang Symbol verdeutlichen sollen.

2. Wenn wir eine Seite komplett aus der Gleichung nehmen, führt dies auf lang oder kurz zu einer Dys-Balance.

“Sunshine all the time makes a desert.” wie ein arabisches Proverb sagt.

In unserer Tendenz, bestimmte Qualitäten zu bevorzugen und ihr Gegenteil ausklammern zu wollen, drohen wir gerade dadurch, zu weit aus dem Gleichgewicht zu kommen. Wird eine Seite zu lange überbetont, erzeugt dieser Schiefstand viele Energieverluste und Reibung.

Der sympathische, “Yang” - Modus, also aktiviert, fokussiert und leistungsorientiert zu sein, ist im Zuge der heutigen vielfältigen Herausforderungen oftmals gegenüber dem parasympathischen, “Yin” Modus (Erholung, Muße, Reflexion) überbetont - mit entsprechenden Folgen für unsere Gesundheit. Denn ohne die Gegenregulation über den Parasympathikus, also der “Yin” Energie, fehlt uns die ausgleichende Erholung, Verdauung und Regeneration auf körperlicher, aber auch geistiger Ebene.

Die negativen Auswirkungen dieser Schieflage im Nervensystem, insbesondere auf unser Immunsystem, sind heute bekannt.³

Betrachtet man dagegen die Polarität Heiß/Kalt, machen wir es uns zumeist ganz schön gemütlich und wollen es am liebsten nur noch kuschelig warm haben - vom Zuhause ins Auto, ins Büro und wieder zurück. Dabei ist gerade der Wechsel von Heiß und Kalt so belebend und regulierend für unser Gefäßsystem - ein Gleichgewicht aus Kontraktion und Weitstellung. Auch hier verweisen viele Studien auf die gesundheitlichen Vorteile dieser Wechselwirkung⁴.

Man kann diese Beispiele ewig weiterspinnen - im Kern geht es immer wieder um das Gleichgewicht der verschiedenen Qualitäten.

3. Die Kräfte der Polaritäten für sich nutzen

Vielleicht hilft es uns, wenn wir uns hin und wieder für verschiedene Lebensbereiche wie Beziehungen, Job, Gesundheit etc. das Bild eines Pendel heranholen und uns fragen:

Für diesen Bereich, an welchem Punkt befinde ich mich gerade entlang des Spektrums?

Was brauche ich gerade, also in diesem Moment, und was brauche gerade ich, ganz individuell? Von welcher Seite des Gleichgewichts brauche ich mehr, von welcher weniger?

Wende dich auch gerne an unsere Zuhörer:innen von Redezeit, um dich bei diesen Fragen zu unterstützen und/oder dir einfach empathisch zuzuhören, wo du gerade stehst.

Wir sollten uns auch bewusst sein, dass ein Leben in den Extremen, egal in welchem Bereich, mehr Energieeinsatz fordert, als wenn wir uns im engeren Spektrum um unsere Mitte bewegen. Dem Hoch folgt in gleichem Maße ein Tief und umgekehrt - eben wie bei einem Pendel.

Natürlich wäre es auch schade, aus Angst vor einem Tief sich all die Hochs des Lebens entgehen zu lassen. Und natürlich können wir uns nicht immer aussuchen, was uns im Leben trifft und auf welche Seite, mit welcher Intensität das Pendel ausschlägt - doch unser Umgang damit liegt in unserer Verantwortung. Und mit jedem Mal lernen wir dazu, wie wir auf bestimmte Bewegungen eben so antworten können, dass wir sogar den Schwung davon für uns nutzen und damit unseren weiteren Weg gestalten können.

Unterm Strich geht es also darum, dass das Leben nicht nur einseitig die “lust-igen”, sonnigen und angenehmen Seiten mit sich bringt und dies auch nicht muss. Entbehrung, Anspannung, Verzicht, Überwindung und Rückschläge auf der einen Seite, halten Belohnung, Entspannung, Genuss, Stärkung und Lernen auf der anderen Seite in der Hand. Entsprechend bedeutet Leben in Vielfalt ein ausgewogenes Leben, in dem wir uns dieser Gleichung bewusst sind und sie im besten Sinne für uns und andere nutzen.

Weil das Leben in alle Richtungen schwingt, niemals still steht und weil jeder Seite eine Kraft, ein besonderes Potential innewohnt, welches wir ausschöpfen können - entlang der ganzen Spektren der Polaritäten.

Ein Gedicht

In Bücherregalen stapeln sich

viele Ratgeber zum “Glücklichsein”

doch bei vielen von ihnen fragt man sich

auf welche Fragen gehen sie ein?

“Wie kann ich mein Leben so gestalten,

dass möglichst nur “Gutes” darin Platz findet?

Wie kann ich den Alltag so verwalten,

dass alles “Schlechte” davon schwindet?”

Vielleicht bringt genau diese Einseitigkeit

des hedonistischen Strebens keine Rast,

weil das Leben in all seiner Vielseitigkeit

in keine Einbahnstraße passt.

Vielleicht ist es Zeit für andere Fragen

wenn die Antwortsuche in Sackgassen mündet

weil wir uns dadurch in Richtungen wagen

wo man neue Wege und Antworten findet.

Vielleicht gibt’s im Leben nicht nur “Gut” und “Schlecht”,

und vielleicht trägt das eine auch Teile vom andren?

Vielleicht ist es oftmals gerade recht,

es nicht so schwarz und weiß zu behandeln?

Vielleicht gilt

Dass ein jeder Pol bereits die Kraft

der Gegenseitige in sich trägt

und dadurch ein ständiges Schwingen schafft

in der sich das Pendel des Lebens entlädt.

Ob Genuss oder Lektion,

Ob Fleiß oder Lohn,

Ob freudiges Gemeinsam-Sein, oder in Reflexionszeit allein -

Erst die Balance aus beiden bringt

dass uns ein Leben in Vielfalt gelingt.

Ein Leben, genährt aus allen Facetten,

statt im Hedonismus-Korsett zu stecken

und ihm dadurch erst die Chance gegeben,

es wirklich, voll und ganz zu (er)leben.

Quellen:

¹ https://www.pharmazeutische-zeitung.de/emotionen-steuern-das-immunsystem/seite/2/?cHash=0ec2e1511f06de73dd9e424d3b5adb9

² Srámek, P. et al. (2000). Human physiological responses to immersion into water of different temperatures

³ Lembke, Anna: Dopamine Nation: Finding Balance in the Age of Indulgence, 2021

Heinonen, Ikka and Laukkanen, Jari A. (2018). Effects of heat and cold on health, with special reference to Finnish sauna bathing

Tamara Drexler

Über die Autorin

Tamara Drexler (29), gebürtige Passauerin und derzeit wohnhaft in Berlin, ist angehende Heilpraktikerin für Psychotherapie mit einem betriebswirtschaftlichen Background.

Nach ihrem Studium (Business Administration and Economics) an der Uni Passau mit einem Auslandssemester in San Diego, war sie zunächst als Marketingleiterin in einem mittelständischen Unternehmen in der Region tätig.

Dabei gab es stets ein inneres Flüstern, der Begeisterung für Psychologie auch beruflich mehr Zuwendung zu schenken. Diese Neugierde, sich selbst und ihre Mitmenschen besser zu verstehen und Verbindungen zu knüpfen, führte sie vor etwa 2 Jahren zur Ausbildung als Heilpraktikerin für Psychotherapie.

Aktuell möchte sie nach der im Mai 2022 abgeschlossenen Prüfung über Seminare, Fortbildungen und Praktika, ihre Ausbildung ausbauen und Fokusbereiche schärfen. 

Beruflich und privat hatte das Schreiben als kreativer Kanal schon immer einen hohen Stellenwert. Hierzu gehören auch Gedichte (z.B. für Geburtstage, Hochzeiten und andere besondere Anlässe), die sie individuell auf Anfrage verfasst.